Husarensäbel und Viehwaggon

Zum Jahrestag der Zwangsaussiedelungen aus dem Oberland erschien in der Zeitschrift Magyar Szó (deutsch: Ungarisches Wort) die neueste Publizierung von Péter Pomozi, Direktor unseres Forschungszentrums für ungarische Sprachgeschichte.

Autor: PÉTER  POMOZI 

18. April 2021, 14:28

Wir haben viel zu viele tragische Jahrestage. Es gibt fast in jedem Monat einen, der so oder so mit dem Zerfall des historischen Ungarns in Verbindung gebracht werden könnte. Mit Trianon, mit dem zu Trianon führenden Weg befreite sich in Wirklichkeit ein Gedanke in Mittel-Europa, den es bis heute nicht gelungen ist zurückzudrängen. Es kann gut sein, der bessere Teil der damaligen Nutznießer hat es auch schon eingesehen, dass mit dem Chauvinismus der kleinen Entente, welcher den Status-Quo der Nationalitäten verbrennt, nicht nur das Ungartum bis zum heutigen Tag verliert, sondern auch diejenigen die sich lange für Sieger hielten. Sie verlieren kulturell und auch wirtschaftlich, weil sie mit minderheitsfeindlichen Reimen diese oder jene Volksgruppe zwar zähmen können, damit erreichen sie aber nie die neue Mehrheit. Höchstens nur die Leere, die den Mörder überrascht als er am Messer, das er aus dem Rücken des Opfers herauszieht, das fließende Blut erblickt. Da begreift er, dass er endgültig etwas zerstört hat, mit großer Wahrscheinlichkeit stattdessen aber nichts erschaffen hat. Aus momentaner Machtposition etwas zu besetzen, zu zertreten, und die Geschichte nach Belieben des Bestellers umzuschreiben war immer schon einfacher als mit würdigem Zusammenhalt etwas zu erbauen: weil es einfacher ist, das Gerümpel zum Nachbarn zu werfen, als ihm beim Gartenputz zu helfen. Anscheinend ist es also einfacher als Sündenbock bezeichnete Völker und Sprachen zu assimilieren, als zu verstehen und tagtäglich zu erleben, dass wir miteinander, nebeneinander 1000 Jahre lang gelebt haben. Auch unsere Sprachen sind in diesem großen Durcheinander im Karpatenbecken zu dem geworden, was sie heute sind. Leider verstehen es noch immer wenige, das ein echtes Mitteleuropa nur so existieren kann, wie es am Bartók-Album der Muzsikás-Band zu hören ist.

Ein tragischer sinnloser Jahrestag ist auch der 12. April 1947., der Jahrestag der tschechoslowakisch-ungarischen „Bevölkerungsaustauschvereinbarung“, was mehr als nur die Entrechtung, Konfiskation und Vertreibung von 90.000 Ungarn ist. 12. April. Eduard Beneš begann schon in den 1910-er Jahren zu träumen, das ist nur eines seiner ,,entmagyarisierenden“ traurigen Spiele. Ohne die im Winter 1945/46 durchgeführten Deportierungen kann man weder die Retorsion gegen die oberländischen Ungarn, noch die 1947-er Zwangsumsiedelungen verstehen. Für all diese legte der 33. Punkt (Verordnung) der Beneš-Dekrete den Grundstein.

Laut diesem ist mein Vater im August 1945 zum Feind der Tschechoslowakischen Republik erklärt worden. Ein verdächtiges Mitglied des ,,kollektivschuldigen“ Ungartums, der Verdacht ist auch deswegen beachtenswert, weil er gerade erst seinen 15. Geburtstag hatte. Deshalb musste man sich im Januar 1946 innerhalb von 30 Minuten mit einem max. 5 Kilo schweren Reisegepäck am Bahnhof von Ipolypásztó beim Deportierungsausschuss melden. Da gerieten mehrere 10.000 oberländische Ungarn in Viehwaggons in das nordwestliche, ehemals mehrheitlich sudetendeutsche Sudetenland. Jedenfalls diejenigen die nicht zu Tode erfroren, und an einem glücklichen Ort zur Zwangsarbeit kamen.

Hier kommt ein im Familien-Archiv behütetes, altbraunes Reiter-Husaren Foto ins Spiel. Die Geschichte schlug es von der Wand, ich habe es aber erneut aufgehängt. Am Bild, das im zentral-tschechischen Vysoké Mýtó im Jahre 1929 geschehen ist, blickt ein schneidiger Reiter-Husar, mein Großvater Gyula Pomozi auf uns. In den Jahren 1938/39 diente er in einer Eliteformation gegen die deutschen Hitler-Truppen. Mit ungarischer Virtuosität, mit seiner Ehre am Kriegsschauplatz welches das Unmögliche nicht kennt, bis zur kompletten tschechischen Kapitulation. Noch dazu mit mehrfacher Befehlsverweigerung. (Von einer Tschechoslowakischen Republik kann da nicht mehr die Rede sein, zu diesem Zeitpunkt regierte in Preßburg schon Hitler‘s Tiso-Marionettenregierung, und der südliche Streifen des Oberlandes ist zurückgekehrt.) Laut dem Familiengerücht ist ein tschechischer Offizier zu den Formationen gegangen um ihnen zu sagen, dass sie ihre Bunkerstellungen gegenüber der mehrfachen Übermacht endlich aufgeben sollen: „Mein Sohn, ihr müsst verstehen, Widerstand zu leisten hat keinen Sinn mehr. Die Republik ist gefallen, sagte er, mit angeblich stockender Stimme.

Großvater des Autors als Reiter-Husar, im tschechischen Vysoké Mýtó im Jahre 1929.

Die Beneš-sche Laune des Schicksal ist, dass der für Julius Pomozi ausgestellte Husarenausweis, der über Widerstandsverdienste berichtet, in einer eisigen Nacht am Abstellgleis im Winter 1946 die Familie und noch mehrere Grundstücke in Ipolypásztó zusammengehalten hat. Und klarerweise die geniale Intuition meines Großvaters, der meinem Vater in einem komplett ungarischen Dorf in der ersten und zweiten Klasse Volksschule die tschechische Sprache beigebracht hat. Somit war mein Vater derjenige, der in einer mährischen Haltestelle aus dem Viehwaggon geflüchtet ist, und ein Telegramm an meinen Großvater nach Pilzen geschickt hat. Die Dame an der mährischen Haltestelle fragte lediglich: ,,sind Sie sich im Klaren darüber, dass man sie dafür erschießen kann“? Mein Vater nickte stumm und die Dame leitete das Telegramm weiter und nahm auch die angebotenen Kronen nicht an.

Als mein Großvater über die Gaunerei per Telegramm erfuhr, marschierte er nach Pilzen vor die Waggons, wo er dem deportierenden Offizier seinen tschechischen Ausweis ins Gesicht drückte. Nach dieser Husaren-Aktion begann er die Dorfbewohner aus dem Waggon herauszuholen. Nach drei Familien verlor der Offizier die Geduld, er durfte lediglich drei Familien vor dem Sklavenschicksal, vor dem Auseinanderreißen retten. Das Maß der persönlichen Freiheit im Falle eines würdigen Husaren war lediglich so viel, dass sie zur Zwangsarbeit in Eisengießerien gehen durften, aber wenigstens gemeinsam mit ihrer Familie. Denn Großvater war Ungarn, also ein ,,kollaborierender Faschist“, gemeinsam mit seinem minderjährigen Sohn, im Gegensatz zu Tiso’s echten Faschisten, die plötzlich zu Volksaustehern wurden, die bei jeder Gelegenheit den Ungarn, die auf ethnische und finanzielle Vernichtung verurteilt sind, einen Heib verpassen, deren einziger ,,Sünde“ vielleicht war, dass sie nicht „reslowakisiert“ sind. Vor 1949 durften die auf dem Oberland gebliebenen Ungarn nicht einmal Luft schnappen. Ende 1947 führte der Weg meines Vaters von Pilzen mit einer abenteurerreichen Flucht nach Budapest.

An Stelle des Hauses meines Großvaters steht heute nur mehr ein Nussbaum, Landwirte gibt es nicht mehr im Dorf. Weder ungarische, noch slowakische. Waggons stehen auch keine mehr am Bahnhof, und nur das Bild wahrt die Erinnerung des Säbels. Man könnte die einstigen Grundsteine des Hauses aus dem tiefen Unkraut hervorkehren, es gibt aber niemanden mehr der es hervorkehren könnte. Ich mache mir Gedanken darüber ob wir es je erleben werden, dass die Beneš-Dekrete kein Geschwür auf dem Körper und Gift in den Gedanken Mitteleuropas sein werden? Solange diese de jure und auch de facto mit uns leben, ist neben unserem Dasein auch unsere Muttersprache in ständiger Gefahr. Und das hätten wir in 100 Jahren nun wirklich lernen können: wenn wir unsere Muttersprach aufgeben, dann haben wir unsere Entität aufgegeben.