Er geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, nahm seinen Pinsel und malte halb Österreich ab.

Die Tageszeitung Magyar Nemzet (deutsch: „Ungarische Nation“) schrieb eine Buchrezension über unser Band ,,Mit Pinsel in westlicher Kriegsgefangenschaft“ – Tagebuch von Sándor Kiss, das von unserem Forscher Artúr Köő verfasst wurde. Die weiteren Teile der Rezension können Sie auf der Homepage der Magyar Nemzet lesen.

Mittwoch, 21. April 2021 06:50

Er geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, nahm seinen Pinsel und malte halb Österreich ab

Westliche ,,Kriegesgefangenen-Idylle“, das Tagebuch von Sándor Kiss berichtet über das Schicksal von mehreren Hundertausend Soldaten

Tamás Pataki

Ein Zeichenlehrer aus Gyula, ein Reserve Leutnant flüchtete mit der ungarischen Streitkraft vor den Sowjets in den Westen, durchquerte halb Österreich, und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Zu seinem Glück, da er die oberösterreichische Wels-Kies Gegend durchgehen, und mittelalterliche, gotische Kirchen, Schlösser, Gebäude, und klarerweise den Alltag in den Lagern abmalen konnte. Viele amerikanische Offiziere und auch ein Budapester Jude, der einem KZ-Lager entkommen ist, kaufte von ihm Aquarell-Gemälde, und wie ein Wunder blieben nicht nur seine Gemälde, sondern auch sein Tagebuch erhalten. Die Schriftstücke von Sándor Kiss (1900–1981) wurden von seinem Nachkommen Ferenc Ternyák aufbewahrt, und das Forschungsinstitut für Hungarologie (FH) publizierte es vor kurzem im Buchformat.

Árpád Székely, der Kunstmaler aus Gyula suchte im Jänner 2018 den Historiker, Verfasser des Bandes, Mitarbeiter des FH Artúr Köő auf, da er ein nicht-alltägliches Tagebuch eines Gefangenen bei sich hat. Da in den vergangenen Jahren viel mehr die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Fokus war, dachte er, dass dieses Tagebuch unser mangelndes Wissen über die westliche Kriegsgefangenschaft erweitern könnte und kam zu dem Entschluss, sich die von Sándor Kiss mit Bleistift geschriebenen, gelb gewordenen Blätter anzusehen.

Handschrift des Tagebuches von Sándor Kiss Foto: László Bárdossy

– Nicht nur der Inhalt hat mich zum Verfassen und zum Publizieren des Tagebuches begeistert, sondern auch die Tatsache, dass der Maler während seiner gesamten Zeit in der Gefangenschaft durchgehend gemalt hat, und dass seine Aquarell Gemälde erhalten geblieben sind– sagte der Historiker, laut dem das ganze Tagebuch aus geschichtlichem Gesichtspunkt wertvoll ist, da wenig ungarisch sprachige Erinnerungen über unsere ,,westlichen“ (in westlicher Kriegsgefangenschaft lebenden) Landsleute erhalten geblieben sind, und eine Monografie ist bis heute noch nicht erschienen, welche die Umsiedlung der militärischen Formationen, die Flucht der Zivilisten und Soldaten, die westliche Kriegsgefangenschaft umfassend aufarbeitet. Sándor Kiss – der als angewandter Grafiker das Etikett der Stéberl-Wurst aus Gyula entworfen hat – begann ab 1944 die Geschehnisse zu erzählen. Im interessantesten Teil beschreibt er den Alltag, die Strapazen und die Stimmung der Bewohner des Kriegsgefangenenlagers 1944.

In Wels gefertigtes Gemälde über die Lagerküche. Juni 1945. Foto: László Bárdossy

– Der Kontrast zwischen westliche und sowjetische Kriegsgefangenschaft ist gut sichtbar, obwohl Sándor Kiss Glück hatte. Die französischen Kriegsgefangenenlager waren wegen ihrer Grausamkeit, Unmenschlichkeit berüchtigt, aus denen unsere Landsleute in die französische Fremdenlegion flüchteten. Die Franzosen wollten oft an den Kriegsgefangenen ihre Verluste im Weltkrieg rächen, und behandelten sie deswegen auf bestialische Art und Weise. Verglichen dazu waren die amerikanischen, englischen Lager segensvoll. 300.000 unserer Soldaten gerieten in westliche Kriegsgefangenschaft, 100.000 wählten unter ihnen die Emigration und kehrten niemals zurück nach Hause – sagte der Historiker.

Sándor Kiss malt irgendwo in Österreich Foto: László Bárdossy

Auf deutschem und österreichischem Gebiet gab es an mehreren Dutzend Orten ungarische Kriegsgefangene, z.B. in Pocking, Linz und Wels. Man hielt aber auch in Dänemark, auf der Fanø-Insel, und auf dem Gebiet Belgiens, in Antwerpen, in Namur  und auch in Ostend Ungarn gefangen – fügte der Verfasser der einleitenden Studie, Heereshistoriker Zoltán Babucs hinzu.
Aber wie sehr typisch westlich ist das Kriegsgefangenenschicksal von Sándor Kiss? Es stimmt, dass man ihn an einem Ort gefangen hielt, wo die demütigende, oder sogar unmenschliche Umgangsweise nicht typisch war. Er durfte malen, musste nicht hungern, aber auch er litt unter der Gefangenschaft, der Unsicherheit, da er keine Nachricht von seinen Geliebten bekam. Darüber fragten wir die Historikerin Zsuzsanna Borvendég, wissenschaftliche Mitarbeiterin des FH, die eine detaillierte Studie im Band über die Heimkehr der westlichen Kriegsgefangenen schrieb.

Sándor Kiss hielt dieses in Wels gefertigtes Aquarell als seine am besten gelungene Arbeit Foto: László Bárdossy

– Er gehörte auch wahrscheinlich in jener Hinsicht zu den glücklicheren, weil er relativ früh – im September 1945 – heimkehren durfte. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine eindeutige Regelung von Seiten der ungarischen Behörden darüber, wie man die Heimkehrenden vom Westen behandeln soll. Deshalb bescheinigte man sie, internierte sie aber nicht, und klagte nicht sie auch nicht an. Hinzugerechnet musste auch er das Schicksal derer teilen, die vom Westen heimkehrten: er wurde vom Regime für immer verdächtigt. Man hielt ihn für unzuverlässig, somit hatte er nie die Möglichkeit dazu, eine Arbeit zu betreiben, die seinem Talent und seiner Bildung entsprach, er hatte nicht einmal die Chance eine Karriere als Künstler zu beginnen. Er unterrichtete Technisches Zeichnen in einer verborgenen ländlichen Schule.– sagte Zsuzsanna Borvendég.
Der Grund der kommunistischen Diskriminierung ist einfach: wenn jemand im Westen unterwegs war, könnte er Informationen haben, welche die kommunistische Machtübernahme gefährden. Wenn wir nur an die Kriegsgefangenen denken, diese lebten Monate lang in den Lagern der westlichen Alliierten, in einer gesellschaftlichen Sphäre, wo man nicht wirklich linksgerichtete Menschen finden konnte, bzw. jene, die den Befehl ausgeführt haben und Richtung Westen gegangen sind, standen wahrscheinlich den Sowjets nicht freundschaftlich gesinnt gegenüber. Das macht sie grundsätzlich zu Verdächtigen.

Das Pernauer Lager und die Holzbuden Foto: László Bárdossy

– Die Sowjetisierung wollte man am Anfang in demokratischer Tarnung verstecken, da man Nationalratswahlen abhielt. Die in westlicher Gefangenschaft lebenden, stärkten allerdings nicht die Wählerbasis der Linken. Zusätzlich bereiteten sich die anglosächsischen Mächte jetzt schon auf die zweipolige Weltordnung vor, und rekrutierten gerne Spione, die aus der sowjetischen Besatzungszone stammten. Die kommunistische Propaganda vergrößerte natürlich diese Gefahr, die überall Feinde suchende Attitüde visionierte ständig imperialistische Spione, damit beängstigte man die Gesellschaft und erschuf die Basis für die Schauprozesse. Das übertrieb man zwar, aber Fakt ist, dass es so etwas gab. Man muss noch dazu sagen, je später sie vom Westen zurückkamen, desto größer war der Kontrast. Sie sahen, und erlebten, dass es auch einen anderen Weg für den Neuanfang gibt, und das war gefährlich. Man musste sie zum Schweigen bringen, man musste ihnen ihr Mitspracherecht in öffentliche Angelegenheiten nehmen. Deshalb hängte man ihnen Prozesse nach, wenn das nicht gelungen ist, internierte man sie, oder setzte sie unter Polizeiaufsicht  – erläuterte der Historiker.

Die Natur triumphiert über den Krieg – in Pernau gefertigtes Bild Foto: László Bárdossy

Mit Pinsel in westlicher Kriegsgefangenschaft – Tagebuch von Sándor Kiss. Redaktionelle Bearbeitung: Artúr Köő. Forschungsinstitut für Hungarologie. Budapest, 2020.

Die vollständige Publikation können sie hier lesen.